"Dichtung und Wahrheit" im Volksmund

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von Hans Gappenach

Dargestellt an einer alten Rübenacher Wolfsgeschichte

Man könnte versucht sein zu sagen, jedes Dorf in unseren Breiten, das Wald besitzt, hat auch seine alten überlieferten Wolfsgeschichten und als besonders glücklich scheint sich  ehedem jener Ort eingeschätzt zu haben, der „den letzten Wolf“ aufweisen konnte. Im Volksmund leben die Heldentaten Einzelner mit diesem in früherer Zeit gefährlichen und gefürchteten Untier fort.

Da wird von Kämpfen berichtet, die heute leicht als „Jägerlatain“ eingestuft würden. In alten Urkunden sind amtlicherseits Mittel zur Tötung (Wolfsgärten und Wolfsgruben) empfohlen. Auch die Anwendung von Fangmaschinen (Tellereisen, Krähenfüße) war erlaubt. Die Kadaver mussten zur Erlangung einer Prämie den Bürgermeister gebracht werden, der die Bestie den rechten Vorderfuß abschlug und ihm beim Kgl. Forstamt oder beim Revierförster vorzulegen hatte. Es gäbe noch viel allgemein interessantes zu berichten. Aber – damit der Faden nicht verloren geht – in Rübenach tauchte wirklich „der letzte Wolf“ dieser Gegend auf, wenn auch nicht gerade zu solch später Zeit, wie im Volksmund erzählt. Da nämlich über Generationen die folgende Geschichte tradiert:

Der letzte Wolf

Etwa um die Mitte des vorigen Jahrhundert ging die Kunde durch das Dorf, Fußgänger, die nach Güls und Winnigen wollten, seien von einem Wolf bedrängt und verfolgt worden. Ein fruchtloser Geselle namens Peter Moskopp bewaffnete sich darauf mit einem Knüppel und suchte die Gegend ab. Im Otter sah er bald das Tier, das mit tief gestrecktem Kopf und heraushängender Zunge wie zahm an ihm vorbeizutrotten schien. Plötzlich fiel es ihn an und er erschlug es.

Als er kurz darauf in den Ort zurückkam, schrie er mit blau verfärbtem und schmerzverzerrtem Gesicht: „Jieht mir aus´m Weg, ich mooß euch beiße!“ Möglicherweise war das Tier tollwütig. Peter Moskopp ist bald darauf eines qualvollen Todes gestorben.

Wie weit sich Volksüberlieferung von wahren Begebenheiten entfernen kann, was sich verändert, ausschmückt, vergisst, hinzu dichtet, das lässt sich an diesem Tatbestand sehr schön belegen:

Da sind zum ersten außer bei der Hauptperson, der ein falscher Vorname beigegeben wird, die Namen aller weiteren Personen – darunter ein 15-jähriges Kind – die mit der Begebenheit in Verbindung standen, vergessen, auch alle genauen Einzelheiten. Zum zweiten ist die Jahreszahl falsch; die Handlung hat sich in Wahrheit nahezu ein halbes Jahrhundert früher zugetragen. Und manches andere. Der genaue Ablauf der Geschehnisse kam ans Licht beim Studium der Rübenacher Kirchenbücher, wo der damalige Pfarrer, Johannes Mathias Geisen, zwischen die Sterberegister des Jahres 1815 die ungeheuerlichen Ereignisse – obwohl sich derlei Berichte über besondere Geschehnisse in den Kirchenbüchern sehr in Grenzen halten – in behäbigem Umgangslatain (um nicht zu sgen „Küchenlatain“) unter der Überschrift „Ad perpetuam rei memoriam“ wie folgt schildert:

Notandum est hoc loco infortunium horendum, quo praedicti tres ultimi parochiani morte terribili periere. Vigesima Julii circa horam sextam vepertinam Lupus rabie infectus, verosimiliter ex silvis ardennis per strepitum belli atque explosionem tormentorum bellicorum huc expulsus, primo mulierem ex pago Winningen, dein septem personas ex Güls crudeliter invasit, eosque gravibus vulneribus affecit. Illuc rediens appropinquavit nostro pago, atque in via, quae ducit in Winningen, primo Wilhelmus Mohrs, adolescentem 15 annorum, dein Annam Margaretham Schwab, viduam 82 annorum, et demum Ludovicum Moskop, patrem 5 puerorum, aetate vero 49 annorum similiter invasit et miserabiliter vulneravit …

In der Übersetzung, die der hier beheimatete klassische Philologe Ulrich Zerwas beisteuerte,  lautet der ganze Schriftsatz:

„Zur ewigen Erinnerung an das Geschehen“

An dieser Stelle ist ein schreckliches Unglück  festzuhalten, bei dem die drei letztgenannten Pfarrkinder eines furchtbaren Todes starben: Am 20 Juli nachmittags um die sechste Stunde hat ein rasender Wolf, wahrscheinlich aus den Ardennenwäldern durch Kriegslärm und Geschützdonner hierher vertrieben, zunächst eine Frau aus dem Dorf Winningen, dann sieben Personen aus dem Dorf Güls grässlich angefallen und schwer verwundet. Auf dem Rückweg  näherte er sich unserem Dorf und fiel auf der Straße nach Winningen zunächst der Wilhelm Mohrs, einen 15-jährigen Jungen, dann die Anna Margaretha Schwab, eine Witwe von 82 Jahren und schließlich den Ludwig Moskop, einen Vater von fünf Kindern im Alter  von 49 Jahren, in gleicher Weise an und richtete sie schrecklich zu. Anton Simonis, der dem Ludwig Moskop in seinem Kampf mit der Bestie zu Hilfe kam, hat sie schließlich getötet. Vier Ärzte wurden sofort aus Koblenz  herbeigeholt und verbanden die Wunden, aber – o Schmerz! – nicht nach den Regeln der ärztlichen Kunst, weil sie irrtümlich glaubten, das Tier sei nicht von der Tollwut befallen. Nach drei Tagen wurden Wilh. Mohrs und Anna Marg. Schwab zunächst mit allen Sterbesakramenten versehen und dann der Pflege des Koblenzer Krankenhauses anvertraut. Ludwig Moskopp, der ja weniger verletzt war, blieb in seinem Hause; seine Wunden waren innerhalb 14 Tagen vollständig geschlossen und er selbst schien in seiner Gesundheit wieder hergestellt.

Am 7. August wurde mir gemeldet, dass Ludwig Moskopp plötzlich erkrankt sei und mich zu sprechen wünsche. Kommendes Unheil gleichsam vorausahnend, habe ich die Krankheitsursache erfragt. Aus seiner und seiner Frau Erzählung habe ich untrüglich die Symptome erkannt, dass er bald in die Tollwut geraten werde und an einer entsetzlichen Krankheit, der sogenannten Hydrophobie, leide. Sofort habe ich Ludwig mit den Sterbesakramenten, nicht ohne große Kerze, versehen. Kurz darauf ist er ins Koblenzer Krankenhaus eingeliefert worden.  Am siebten Tage ist bei diesem Ludwig und bei Wilhelm Mohrs die furchtbare Tollwut ausgebrochen, welche nach zwei Tagen ihren maßlosen Schmerzen in einem dennoch sanften Tod ein Ende bereitete. Anna Margarete Schwab, die ja schon vom Alter geschwächt war, war nach einem kurzen Anfall dieser schrecklichen Krankheit schon am 6. August im Herrn verstorben.

Seit Menschengedenken hatte man von einem solchen Unglück nicht gehört. Die Zahl der Wölfe ist schon so groß, dass man nur noch bewaffnet aufs Feld zu gehen wagt.

Die Menge des einfachen Volkes setzt bei dieser Krankheit großes Vertrauen in die Anrufung des hl. Hubertus und in das Brandmahl mit dessen Schlüssel. Die drei Unglücklichen setzten in gleicher Weise ihre Hoffnung in Anrufungen und Exorzismen dieser Art. Ein gewisser Ex-Kapuziner aus dem Tal Ehrenbreitstein leistete diesen Beistand, worüber ich jedoch gerne hinwegsah, wohl überzeugt, dass dieses Brauchtum ebenso viel Trost wie zur Genesung beitragen könne. Der traurige Ausgang hat gezeigt, dass dieses Wundermittel nichts als barer Aberglaube ist.

Dies zur Kenntnis der nachfolgenden Pfarrherren, welche, so wie auch ihre Pfarrkinder, der Allerhöchste vor ähnlichem Übel bewahren möge.

Johannes Mathias Geisen, Pfarrer

Der heute nicht ohne weiteres verständliche Passus mit dem „Schlüssel“ erhellt sich dem, der die mittelalterliche Hagiographie kennt.

(Im Kloster Saint Hubert in den Belgischen Ardennen verehrt man den hl. Hubert (geb. um 66o; Bischof von Maastricht) als Beschützer und Helfer  gegen Tollwut. Zu der Stola des Heiligen, die in der Basilika aufbewahrt wird, pilgerten seit Jahrhunderten aus dem Rheinland viele Prozessionen. Dort wurden Gebissene „gestolt“, d. h. es wurde ihnen in die Kopfhaut ein Fädchen aus der Stola des Heiligen operativ eingepflanzt. In der Ikonographie wird St. Hubert mit einem Horn und einem Schlüssel dargestellt. In der Zeit großer Epidemien verlieh das Kloster ausgewählten Personen „besondere Fakultät und Gewalt samt Schlüssel“. Von einem solchen Schlüssel (clavis), der erhitzt und mit dem einen Tier (auf die Stirn) oder beim Menschen (auf den Daumenballen) ein Hornzeichen aufgebrannt wurde, ist in einer bislang ungedeuteten Stelle der Rübenacher Urkunde die Rede. Hubertusbruderschaften gab es im Mittelalter überall: Die heute ganz unvorstellbaren Riten findet der Interessent beschrieben In: D. Lepique, Der Volksheilige Hubertus in Kult; legenden und Brauch, Diss. Bonn 1951. – Die Vita von St. Hubertus, des „Missionars der Ardennen“, gehört zu den interessantesten in der Heiligengeschichte. (Der Reliquienschrein mit seinen Gebeinen wurde 1568 bei einem Hugenottenüberfall vernichtet.) – Seit dem 11. Jh. Wird St. Hibert als Patron der Jäger verehrt (Hubertusjagden). Seine Gestalt hat die Künstler aller Epochen (Pisanello, Dürer, Rogier, Marées u.v.a.) zu bedeutenden Bilddarstellungen angeregt)

Verglichen mit dem originalen Tatbestand ist in der Volksüberlieferung die Tollwutkomponente in merkwürdiger Weise ausgestaltet. Früher war die Meinung volkläufig, von der Krankheit Befallene würden wie ein Tier andere wieder beißen; davon kündigen zahlreiche alte Volkserzählungen. Überdies weiß die Märchen-, Sagen- und Volkstumsforschung – und nicht nur sie –, dass „das gemeine Volk“ in vielfacher Hinsicht einen Hang zu Grausamkeiten hat (auch die Moritaten, die in großen Mengen auf Jahrmärkten goutiert wurden, beweisen es). Die Tollwut war eine furchtbare Krankheit, die zuweilen epidemisch auftrat (bes. etwa 1830) und zahlreiche Opfer forderte (z. B. 1905 in Preußen noch 368 Todesfälle). Hier vereinigen sich in Rübenach zu einer durch den Krieg und viele grausame Geschehnisse gekennzeichnete sowieso schon dunkle Zeit Tollwut und Wolfsgeschehen in schrecklichen Kulmination.

Der gleiche Tatbestand, den Pastor Geisen lateinisch zu Papier gebracht hat, begegnet uns noch häufiger. Ein großer Kenner der Heimatgeschichte des Koblenzer Raumes, Dr. H. Prößler, berichtet in anderen Zusammenhang:

„Der Generalkommissar Sack schrieb von Koblenz aus in seinem Regierungsbericht vom Juli 1815 an seinen Bruder, den Preußischen Oberpräsidenten Sack in Aachen, dass in seinem Bezirk plötzlich Wölfe aufgetaucht seien. Am 20. Juli hatte sich nachmittags gegen 4 Uhr in Winnigen an der Mosel ein Wolf gezeigt, der elf Menschen und mehrere Tiere auf seinem Wege anfiel. Am Abend gegen 6 Uhr sah ihn der Moskop aus Rübenach in der Nähe seiner Gemeinde, rief schnell den Bauer Anton Simons herbei und tötete den Wolf, der schon durch Sensenhiebe verwundet war.“

Dieser Rübenacher Wolf nun erscheint in der Chronikenschreibung der Gegend auch noch anderenorts. Erich Schwamm und Werner Reif, zwei Rübenacher, erinnerten sich an einen Hinweis, der seinerzeit Anton Hilgert gegeben hatte, nachdem er vor Jahren anlässlich eines Besuches des Blücher-Museums in Kaub fündig geworden war. Einmal darauf hingewiesen, ergaben Recherchen das folgende: Das genannte Museum bewahrt handschriftliche Blätter, die vermutlich Berichte darstellen, durch die ein beauftragter Untergebener den in Wiesbaden residierenden General laufend über Geschehnisse aus dem Koblenzer Raum informierte. Da heißt es dann unter dem 10. August (1815):

wolfsgeschichte

Original der zitierten Seite aus dem Blücher-Museum, Kaub

„Im vorigen Monathe hörte man das traurige Ereignis, dass mehrere Menschen von Rübenach, Güls und Winningen durch Wölfe angefallen und übel zugerichtet wurden. Ein rüstiger Mann von Rübenach hatte die Stärke und Beherztheit, einen solchen festzuhalten, der nun von einem ihm mit einem Karste zu Hilfe geeilten Nachbarn erschlagen und hierher gebracht ward. Man kam bald auf die Besorgnis, dass dieses Tier möge rasend gewesen sein, welches sich leider gegenwärtig bestätigt, da schon drei von den Gebissenen wasserscheu geworden und auf eine elende Weise umgekommen sind.“

(Erste Anzeichen für Tollwut sind Krämpfe und Nervenlähmungen; dann treten Schluckbeschwerden auf, weshalb der Kranke trotz übergroßen Durstes vermeidet, Flüssigkeit zu sich zu nehmen (Hydrophobie); im Volksmund sagte man bei diesem Stadium: „Er ist bereits wasserscheu geworden“.)

Noch weitere Spuren hat „der Rübenavher Wolf“ in Amtsdokumenten hinterlassen: Der Geheime Staatsrat und Oberpräsident der Preußischen Provinzen am Rhein erließ im Journai für Mittel- und Niederrhein Nr. 92, Bd. VI, 1. August 1815 eine  Bekanntmachung, in  der er mitteilte, dass innerhalb 15 Tagen zwei wütende Wölfe im Rhein- Mosel-Depertement erschienen seien und in den Kantonen Koblenz und Ahrweiler entsetzliches Unglück angerichtet hätten … „Der erste Wolf hat sich gegen Abend des 20. Juni in der Gemeinde Güls bei Koblenz gezeigt. Wie rasend durchschweifte er die Fluren und biss nach allem, was ihm in den Weg kam, zerriss und biss mehrere Hunde und hat zehn Menschen fürchterlich verletzt. In Rübenach wurde er durch den Mut eines Landmannes getötet.“

Wir wissen heute, dass die Wolfsinvasion („wahrscheinlich durch Kriegsgetümmel aufgescheucht und durch langes Herumschweifen zur Wut gebracht“ – der Rübenacher Pastor drückte es ähnlich aus –) 1815 aus den Ardennen und Vogesen kam und die Rudel sich in der Eifel und Hochwald verirrten: Im Jahre 1814/15 wurden im Kreis Koblenz 34, Bonn 35, Prüm 77, im Bezirk Trier allein 159 ( 1817: 114 Stück) Wölfe erlegt, wofür die Regierung 1019 Taler Abschussprämie auszahlte.

Nahezu mit jedem erlegtem Tier verbindet sich ein kleines Lebensschicksal, eine Heldentat; da heißt es z.B. in einem amtlichen Bericht (1816): „ … der gestalt, daß, nachdem der Förster demselben zum zweitenmale geschossen, solcher auf ihn wütend loskam und obgleich sich der Förster soviel als möglich wehrte, der Wolf ihm nicht allein die kupferne Pfeife vorne, wo der Ladestock durchgeht, entzwei biß, sondern auch die beiden Läufe durchaus bis zur Unbrauchbarkeit quetschte und trotz allem dem so sehr auf den Förster zudrang, dass er, da seine beiden Läufe abgeschossen waren, um Hülfe schreien musste, worauf die herbeieilenden Schützen das wütende Tier durch einen gut angebrachten dritten Schuß zur Rettung des Bedrängten endlich hinstreckten“.

Das Schicksal des Rübenacher Bürgers Ludwig Moskop steht also keineswegs alleine; dennoch: dass der Kampf mit dem Wolf einem Mann das Leben kostete, ist verhältnismäßig selten. Immerhin nähme der Ort Rübenach in einer „Rheinischen Wolfsgeschichte“, die – so interessant sie wäre – wahrscheinlich nie geschrieben wird, dort ein langes und wichtiges, mit genauen Namen, Daten und Einzelheiten belegbares Kapitel ein.

Und was schließlich die Volkspoesie angeht, so ersieht man, wie genau – wenn auch in anekdotischer Verbrämung – diese sich zu erinnern vermag und wie  nach nahezu 200 Jahren kein wichtiges Detail, von Generation zu Generation weitergegeben, in Vergessenheit gerät.
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